T. Bürgisser: Wahlverwandtschaft zweier Sonderfälle im Kalten Krieg

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Titel
Wahlverwandtschaft zweier Sonderfälle im Kalten Krieg. Schweizerische Perspektiven auf das sozialistische Jugoslawien 1943–1991


Autor(en)
Bürgisser, Thomas
Reihe
Quaderni di Dodis 8
Erschienen
Bern 2017: Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS)
Anzahl Seiten
642 S
von
Georg Kreis

Thomas Bürgisser präsentiert mit seiner Basler Dissertation eine gehaltvolle und exemplarische Studie zu den schweizerisch-jugoslawischen Beziehungen der Nachkriegsjahre und der Zeit des Kalten Krieges. Er füllt damit eine konkrete historiografische Lücke in der Geschichte der Schweizer Aussenbeziehungen und zeigt zugleich in vorbildlicher Weise, wie sich die schwierige Aufgabe der Erfassung und Untersuchung bilateraler Verhältnisse meistern lässt. Analoges ist in der alten Schule Bonjour beispielsweise von Adolf Lacher (1967) für Frankreich und die Jahre vor 1914 und in jüngerer Zeit für Deutschland nach 1945 von Therese Steffen Gerber (2002), Markus Schmitz (2003) und Antoine Fleury u.a. (2004) unternommen worden. Bürgisser erfüllt seine Aufgabe in klassischer Weise und mit erhöhtem wissenschaftlichen Anspruch. Das klassische Programm besteht darin, dass die politisch-humanitären, wirtschaftlichen, militärischen, kulturellen, medialen und in diesem Fall besonders wichtigen migratorischen Dimensionen der Beziehungen erfasst werden. Das Bestreben, den gesteigerten Anforderungen an Wissenschaftlichkeit zu genügen, zeigt sich in der Berücksichtigung der kognitiven Prozesse, der Wahrnehmungsproblematik, die eben davon ausgeht, dass die Dinge nicht einfach sind, sondern auf Grund von Prädispositionen und entsprechenden imagologischen Zuschreibungen gesehen und empfunden werden.

Bürgisser hat einen enorm breit angelegten Quellenkorpus ausgewertet, der neben Primärakten aus zahlreichen Archiven auch Zeitungen und abgelegene Sekundärliteratur sowie Einschätzungen von Zeitzeugen umfasst. Die einzelnen Kapitel beeindrucken durch ihre Faktendichte, doch abgerundet werden sie jeweils mit Zwischenfazits, welche die Ergebnisse wieder auf die leitenden Fragen ausrichten. Diese gelten den wegleitenden Vorstellungen einer schweizerisch-jugoslawischen Wahlverwandtschaft von entweder fast gleichartigen oder sich doch ergänzenden Sonderfällen, etwa hinsichtlich «Vielvölker- schaft», Selbstverwaltung, Föderalismus, Unabhängigkeitswillen, Abgrenzung gegen den «Osten», Ähnlichkeit zwischen Neutralität und Blockfreiheit und, wenn’s sein musste, sogar in landschaftlicher Hinsicht. Dies und die sehr ausgeprägten Interessen der schweizerischen Wirtschaft an Jugoslawien liessen die beiden Länder bemerkenswert nahe erscheinen, obwohl beträchtliche Unterschiede besonders hinsichtlich der Qualität der Demokratie und des Wohlstandsniveaus vorlagen. In einer wechselwirkenden Dynamik könnten konkrete Interessenwahrnehmungen zwischen den beiden Ländern ein positives Bild genährt und dieses Bild wiederum weitere konkrete Realisierungen gefördert haben.

Die orientalistische Vorstellung, wonach der Balkan eine rückständige Region sei (sein müsse), spielte im Untersuchungszeitraum keine Rolle, sie war, sofern weiter vorhanden, überdeckt von anderen Imaginationen. In einem einleitenden Kapitel führt uns Bürgisser ins 19. Jahrhundert zurück und zeigt, dass es bereits damals verklärende Jugoslawienbilder gab. Ausgehend von den kritischen, ja feindseligen Bewertungen, mit denen jugoslawische Herkunft in der Schweiz der 1990er Jahre bedacht worden ist, ruft Bürgisser in Erinnerung, dass Jugoslawien aus schweizerischer Sicht jahrzehntelang eine ausgesprochen positive Wahrnehmung genossen hat. Der Imageverlust nach 1990 war derart radikal, dass sozusagen keine kollektiven Erinnerungen an das positive Balkanbild übriggeblieben sind.

Bürgisser ist es ein Anliegen, die grosse Diskrepanz zwischen den beiden Jugoslawienbildern zu zeigen: auf der einen Seite das uns aus den 1990er Jahren bekannte negative und auf der anderen Seite das völlig in Vergessenheit geratene positive Bild der Jahrzehnte zuvor. Indem er einleitend das positive Bild bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt, könnte er indirekt den Eindruck begünstigen, dass es in jener Zeit nicht auch negative Balkan-Stereotype gegeben hätte. Dank der auch von Bürgisser (S. 27) kurz angesprochenen Studie von Maria Todorova (erschienen 1997/99 und besprochen in der SZG 3/2000) wissen wir jedoch, wie sehr solche gerade damals virulent waren. Wenn in jüngerer Zeit die exjugoslawische Krisenregion in den Medien mit einem modernen Dampfkochtopf symbolisch gleichgesetzt worden ist, könnte dies eine unbewusste oder halbbewusste Wiederaufnahme des alten Bildes des südwesteuropäischen Hexenkessels sein und wären die in den 1990er Jahren aufgekommenen Negativbewertungen ebenfalls eine Reaktivierung älterer Bestände. Dass auch in der Schönwetterphase die dunklen Bilder der primitiven Balkanmenschen abrufbar waren, zeigen die Urteile des schweizerischen Botschafters in Belgrad im Frühjahr 1973 über die Menschen, «die aus einer ganz anderen Welt stammen» (S. 554).

Wie es auch und gerade hochstehenden wissenschaftlichen Leistungen eigen ist, zeigt auch Bürgissers Arbeit auf, was weiter geklärt werden könnte oder müsste: Da steht im Vordergrund die Frage, wie die einzelnen Beziehungssektoren (Politik neben Wirtschaft neben Kultur und Sport) aufeinander gewirkt haben und in welchem Mass der Bundesrat als zentrale Instanz dies koordinierte oder hätte koordinieren können. Und im Weiteren wären vergleichende Blicke auf die deutschen und österreichischen Beziehungen zu Jugoslawien erhellend und würden möglicherweise das scheinbar spezifisch Schweizerische an den registrierten Haltungen insbesondere in den Bereichen des Tourismus und der Arbeitsmigration etwas relativieren.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Thomas Bürgisser: Wahlverwandtschaft zweier Sonderfälle im Kalten Krieg. Schweizerische Perspektiven auf das sozialistische Jugoslawien, 1943–1991, Bern: Diplomatische Dokumente der Schweiz, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 417-419.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 417-419.

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